Mallorca – Island in Progress

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Mallorca – Island in Progress von Marc Räder
Auf den Bildern Marc Räders erscheint die Ferien-Insel Mallorca als Spielzeuglandschaft. Das rührt an unsere ältesten Sehnsüchte

Hanglage mit Seeblick – wer diesem mächtigsten aller Immobilienwünsche auf den historischen Grund geht, stößt unweigerlich auf eine Urmenschen-Fabel: Als sich diese vor die Wahl gestellt sahen, zu fressen oder gefressen zu werden, suchten sie einen Ort, der zugleich Deckung und Aussicht bot. Ein Berg im Rücken schützte vor Angreifern aus dem Hinterhalt, während sich aus erhöhter Position das Ufer überblicken ließ, an dem die Tiere zur Tränke zogen. Den Kopf zum Wasser geneigt, war das Wild den Jägern ausgeliefert, die sich mit Speeren von hinten anschlichen. Hanglage mit Seeblick, das ist das Resultat eines Vorgangs, den die Paläontologie als Habitat-Selektion bezeichnet. Und auch wenn es in der Urzeit keinen Unterschied zwischen Überlebenskampf und Freizeit gab, der Urlaub also noch nicht erfunden war: Offenbar hat sich bis heute wenig geändert, es scheint, als seien die Sehnsuchtsorte des Tourismus ein ferner Reflex auf vorgeschichtliche Jagdgründe. In aller Welt zieren Hotels die Hanglagen am Meer, überall sind Zimmer mit Aussicht die teuersten.

So ist es auch auf Mallorca. Eine gehobene Klientel residiert dort in Deià, das sich behaglich an die Hänge der Tramuntana-Berge schmiegt, während die wilden Tiere ihren Kopf am Ballermann zur Tränke neigen. Sie saufen Sangría aus Eimern. Muss man da gewesen sein? Kenner dieser Insel werden empört darauf bestehen, denn auch Mallorca kommt nicht mit seinem Klischee zur Deckung. Trotzdem: Das Kontingent touristischer Sehnsuchts­bilder ist von stupender Einförmigkeit. Die Palme am Strand, der Pool, der Hotelbalkon – das lässt sich überall vorstellen, wo abends die rote Sonne im Meer versinkt.

Den Bildern Marc Räders ist kaum anzusehen, dass sie tatsächlich auf Mallorca aufgenommen wurden. Dem in Berlin leben­den Fotografen geht es offenbar darum, realen Szenerien ihren Modell-Charakter abzugewinnen. Dazu kippt er die Objektivebene seiner Großbildkamera so, dass sie nur einen punktuellen Ausschnitt des Bildraums scharf belichtet. Die Vorder- und Hintergründe verschwimmen, wodurch die Motive auf eigentümliche Weise Spielzeug­landschaften ähneln. Die Realität dieser Bilder erscheint smaller than life; die Menschen, die hie und da die Szene bevölkern, wirken auch dort erstarrt, wo sie in der Bewegung fotografiert wurden.

Warum aber sind diese Bilder so schön? Man könnte auch fragen, warum erwachsene Männer mit Leidenschaft Märklin-Landschaften zusammenbasteln. Räders Fotos überschreiten schnöden Naturalismus zugunsten von etwas Grundsätzlicherem. Und gehen damit der schrecklichen Schlichtheit unserer Sehnsüchte auf den Grund – denn viel mehr will der Mensch seit Urzeiten ja nicht als immer wieder nur Hanglage mit Seeblick.

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